„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“
Wir möchten in diesem Newsletter zwei Publikationen vorstellen, die im Rahmen einer groß angelegten Evaluationsstudie in der SAPV-KJ im deutschen Bundesland Hessen veröffentlicht wurden. In Deutschland besteht ein Rechtsanspruch auf Palliativversorgung, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Im Bundesland Hessen sind drei Kinder-SAPV-Teams tätig, die auf die Versorgung von Kindern und Jugendlichen im häuslichen Setting spezialisiert sind.
In der Evaluation wurde herausgearbeitet, was die „besonderen Belange“ der Kinder und Jugendlichen in der häuslichen Palliativbetreuung sind und welche Betreuungspraktiken Kinder-Palliativteams nutzen, um mit diesen zu arbeiten.
Die erste Publikation beschäftigt sich mit der Frage, welche „besonderen Belange“ Kinder und Jugendliche in der häuslichen Palliativversorgung haben1. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, so lautet der Tenor. Kinder haben also einen besonderen Versorgungs-aufwand, was die Autorinnen anhand von vier Aspekten deutlich machen:
- Die palliative Versorgung bei Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters umfasst schwere, komplexe, oftmals seltene Erkrankungen. Es erfordert eine besondere Expertise, um das Symptomgeschehen zu kontrollieren.
- Es braucht eine familienzentrierte Versorgung, da sich die Familien in einer höchst komplexen Situation befinden. Die Eltern nehmen eine unverzichtbare Rolle in der Versorgung ein und haben eine Stellvertreterrolle für das Kind. Das Familiensystem, oft mit Geschwisterkindern, ist überaus vulnerabel. Behandlungsziele müssen fortwährend überdacht, die Eltern prozessorientiert befähigt werden, da sich Krankheitsverläufe oft ändern.
- Die schwere Erkrankung und das Versterben eines Kindes erfordern eine besonders aufwendige psychosoziale Versorgung, da diese Situation sowohl für die Familien als auch für die Betreuenden enorm belastend ist. Auch in der Trauer benötigen die Familien Unterstützung.
- Die besonders aufwendige Koordination der Versorgung ergibt sich aus den oft vielen Beteiligten, wie verschiedene ärztliche, pflegerische und therapeutische Dienste, Apotheken usw., aber auch nichtmedizinische Institutionen, wie Schule oder Kindergarten.
Darüber hinaus ergab die Evaluation, dass die Familien häufig nicht aktiv zur Kinder-SAPV zugewiesen wurden, sondern oft zufällig davon erfuhren, oder selbst danach recherchierten.
Die Betreuungspraktiken der Kinderpalliativteams stellen die Autorinnen in einer zweiten Publikation dar2. Das Team beobachtete acht Begleitungen in Familien und konnte fünf wichtige Betreuungsstrategien ermitteln:
Die Begleitungen waren durch eine große Vertrautheit zwischen dem Palliativteam und den Eltern charakterisiert. Das Team zeigte dies durch routinierte Handlungen, die an die Familie angepasst waren. Z.B. wurden die Schuhe ausgezogen oder nicht oder es wurde am Beginn der Betreuung Kaffee getrunken.
Das Team zeigte eine durchwegs ressourcenorientierte Haltung gegenüber den Kindern, egal, wie eingeschränkt diese waren. Die Eltern wurden beispielsweise gefragt, welche Kompetenzen das Kind habe. Darüber hinaus wurde nicht nur über die Erkrankung oder Symptome gesprochen, sondern auch darüber, wie sich das Kind entwickelt, oder ob es lacht und dergleichen.
Befähigung und Empowerment standen im Zentrum der Begleitung. Die Eltern wurden umfassend informiert und angeleitet. Dies war auch die Basis für die regelmäßige gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision-making) mit den Eltern. So wurden die Eltern bei jedem Besuch nach ihrer Einschätzung des aktuellen Befindens des Kindes gefragt. Häufig entschieden die Eltern, was als relevant einzuschätzen war. Auch vermeintlich kleine Anliegen wurden aufgegriffen und diskutiert.
Auch die Eltern und deren Anliegen wurden bei jedem Besuch angesprochen, und zwar nicht nur in Hinblick auf die Versorgung des Kindes, sondern auch, indem Raum für die Anliegen der Eltern eröffnet wurde. Das Team hörte zu, zeigte Verständnis und Empathie und trug damit zur psychosozialen Unterstützung der Eltern bei.
Durch die extensive Kommunikation formten die Teams eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Eltern und eine familienzentrierte Betreuung, die für jede Familie speziell angepasst war. Dies umzusetzen, erfordert umfassende Expertise, Kommunikationsfähigkeiten, psychosoziale Kompetenz und nicht zuletzt Zeit von einem Kinderpalliativteam. Das sollte beim Aufbau von Strukturen, in Bezug auf die Ausbildung und Bezahlung und bei der Entwicklung von Leitlinien berücksichtigt werden, schlussfolgert das Forschungsteam.
Autorinnen: Christiane Kreyer & Elisabeth Medicus
Klicken Sie auf den Link, um zu den Volltexten zu gelangen:
1 Engler, J., Schütze, D., Hach, M. et al. Spezialisierte ambulante Palliativversorgung für Kinder, Jugendliche und ihre Familien – die besonderen Belange der Zielgruppe. Ergebnisse der ELSAH-Studie. Bundesgesundheitsbl 65, 357–366 (2022). https://doi.org/10.1007/s00103-022-03500-7
2 Schuetze D, Ploeger C, Hach M, Seipp H, Kuss K, Bösner S, Gerlach FM, van den Akker M, Erler A, Engler J. Care practices of specialized outpatient pediatric palliative care teams in collaboration with parents: Results of participatory observations. Palliat Med. 2022 Feb;36(2):386-394. https://doi.org/10.1177/02692163211065294